»Bodenlos« von Ingrid Mata Strübbe

 

A4_FederEs war eine jener Sommernächte in denen die Welt stillzustehen schien. Fred saß in seiner Wohnung und grübelte stumm vor sich hin. Das einzige Geräusch war das stete Summen des Ventilators. Eigentlich hätte Fred längst in seinem Taxi sitzen müssen und zusehen, dass er viele Fahrkunden bekam, damit sein Taxometer ordentlich lief. Doch an diesem Abend interessierte es ihn nicht im geringsten was in der Welt vorging.

In seinem Geist war Fred in einer anderen Zeit. Einer Zeit, die er als die schwärzeste seines Lebens betrachtete und die immer noch in ihm nachwirkte. Einst war er verheiratet gewesen und sie hatten eine wunderbare kleine Tochter, sie hieß Emmi. Emmi war 5 Jahre alt, als ein betrunkener Autofahrer die Kleine übersah und schwer verletzte. Noch am selben Tag starb das kleine Mädchen an den Folgen des Unfalls. Die nächsten Tage waren ein einziges Grauen aber man hatte keine Zeit nachzudenken, so vieles musste geregelt werden.

Doch dann kam das Erkennen. Soviel war verloren gegangen, ein Platz war freigeworden den das kleine Mädchen mit lachen und Leben gefüllt hatte. Um die Trauer nicht zu fühlen sann Fred auf Vergeltung. Er wollte dem Autofahrer den gleichen Schmerz zufügen den er selbst spürte. Er vergrub sich in seine Einsamkeit und war darin für niemanden erreichbar. Nach einer Weile, in der es keinen einzigen Lichtblick gab sann er nicht nur auf Vergeltung sondern er wurde zornig. Zornig auf sein Schicksal und auf Gott. Zornig auf sich selbst weil er sein kleines Mädchen nicht hatte schützen können. In all diesen Empfindungen hatte er seine Frau alleine gelassen. Wo Gemeinsamkeit nötig gewesen wäre gab es nur Trostlosigkeit. Ein bodenloser Fall in die tiefste Schwärze des Daseins. Lange Zeit hielt seine Frau ihm die Treue, sehnte sich nach einer Geste der Verbundenheit, doch alles blieb still. So sah sie eines Tages keine andere Möglichkeit mehr als fortzugehen, sich zu trennen. Da wurde in ihm Zorn zu Hass. Hass, der seine Gedanken und Gefühle vergiftete und seine Seele langsam zerstörte. Die Jahre vergingen, verlorene Zeit ohne Freude, gefangen in der Schwere des Seins.

Doch das Schicksal läßt niemanden alleine, wenn man nur willens ist zu hören und bereit ist zu sehen. Die Wege des Lebens sind manchmal ungewöhnlich, doch was geschehen muss geschieht.

So saß Fred eines Tages beim Zahnarzt als ihm ein kleines Büchlein in die Hände fiel, es hieß Sternenkinder. Darin stand geschrieben, dass wir alle Seelen sind, die auf die Erde kommen um zu lernen. Seelen, die sich nichts sehnlicher wünschen als eines Tages mit dem Licht der Ewigkeit zu verschmelzen. Doch zuvor ist es notwendig, die Herausforderungen des Lebens anzunehmen. Nichts geschieht ohne Sinn und Verstand, allem wohnt eine Weisheit inne, die wir nicht auf den ersten Blick erkennen können. Für Fred waren das ungewohnte Worte doch das Büchlein begann ihn anzuziehen. So las er weiter.

Kapitel für Kapitel. Langsam, ganz langsam begann er zu verstehen. Er begriff, dass wir alle hier sind um in Frieden zu kommen mit dem was ist. Er begann auch zu verstehen, dass die Aufgabe seiner kleinen Emmi erfüllt war und es keinen Sinn mehr für sie gemacht hätte länger hier zu bleiben. Das begann ihn aufzurütteln, seine Starre zu berühren. Noch einmal erlebte er das Geschehen, noch einmal kam die Trauer und der Schmerz zu ihm, doch diesmal um einen Platz zu finden in seinem Leben. Ein Satz zog ihn besonders an. Er hieß „ Haß ist nur die Rückseite der Medaille die Liebe heißt.“ Wer fähig ist so tief zu hassen kann auch ganz tief  lieben. Doch dazu ist es notwendig in Frieden zu kommen mit all den Gefühlen und all den Gedanken die noch nicht in Liebe sind. Es ist in Ordnung all diese Gedanken und Gefühle zu haben aber es ist wichtig sie nicht festzuhalten sondern sie stattdessen dem Fluß des Lebens zu übergeben. Fred wurde versöhnlicher. Er begann sich selbst anzunehmen. Sein Zorn und sein Haß, auch auf den Autofahrer begannen zu schmelzen. An ihre Stelle trat Einverstandensein. So begann er zu heilen. Zufriedenheit kehrte ein anstelle von Hadern. Seine Seele begann aufzuwachen aus ihrer tiefen Verzweiflung und Fred konnte erkennen, dass er Teil eines großen Puzzlespieles ist das unser Universum ausmacht. Die Wunden seiner Seele begannen zu heilen. Doch es blieb eine Narbe zurück. Eine Erinnerung die Teil seines Lebens war und die ihn zu dem gemacht hatte was er heute ist.

Plötzlich wurde Fred sich wieder der Zeit gewahr und er erwachte von seinem Tagtraum. Er tat was getan werden wollte – er lebte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

69 − = 68